Aggressive Patienten: Wie eine Kollegin ihr Praxisteam schützt

Übergriffige Patienten belasten Praxisteams enorm. Nach mehreren unerfreulichen Vorfällen hat Ärztin Manuela D. beschlossen: Es muss etwas geschehen.

Anmerkung der Redaktion: Nach dem Erscheinen des Beitrags hat uns die traurige Nachricht erreicht, dass die Protagonistin unseres Beitrags bereits wenige Wochen zuvor gestorben ist. Unser Mitgefühl ist bei den Angehörigen. Aus Pietät haben wir den Beitrag anonymisiert und die Fotos entfernt.

Eine kleine badische Stadt mit knapp 25.000 Einwohnern. Praxisteams, die sich mit Selbstverteidigungskursen, Rescue-Räumen und Beratungen durch die Kriminalpolizei vor aggressiven Patienten schützen müssen, vermutet man hier eher nicht.

Und doch wusste die Ärztin Dr. Manuela D. nach mehreren bedrohlichen Vorfällen keinen anderen Ausweg mehr, als das Heft des Handelns selbst in die Hand zu nehmen. Sie wollte nicht nur sich selbst, sondern vor allem ihre drei Medizinischen Fachangestellten schützen, die sie als „meine Abfangjäger“ bezeichnet.

Die Aggressivität habe in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen, berichten D. und ihre Mitarbeiterinnen Sandy S., Laura S. und Lisa F. und sie benennen zwei Ursachen, die sie dafür ausgemacht haben. Die Coronapandemie und die Pflicht für bestimmte Facharztgruppen, fünf Stunden in der Woche eine offene Sprechstunde anzubieten. Diese wurde 2019 mit dem Terminservice- und Versorgungsgesetz (TSVG) eingeführt.

“Da ist nicht immer Verständnis von Seiten der Patienten da”

„An manchen Tagen stehen morgens um 8 Uhr bereits 30 Patienten vor der Tür, die in die offene Sprechstunde möchten, also keinen Termin haben. Da ist nicht immer Verständnis von Seiten der Patienten da, dass wir in diesen Fällen keine aufwändige Rund-um-Versorgung, sondern erst einmal nur eine Notversorgung leisten können“, sagt D.

Die Patienten mit den Terminen kommen ja anschließend noch. Die Stimmung sei dann schnell gereizt. Wenn die Patienten dann noch mal wiederkommen müssen, weil in der offenen Sprechstunde nicht sofort jede aufwändige Untersuchung gemacht werden kann, steige der Aggressionspegel weiter. Und die Corona-Pandemie habe bei vielen Menschen auch aggressives Verhalten gefördert.

Die Zahl der aggressiven Patienten hat zugenommen

Auf keinen Fall wollen Manuela D. und ihre Mitarbeiterinnen falsch verstanden werden. Der absolut größte Teil der Patienten sei freundlich und offenbar mit der Arbeit des Praxisteams auch sehr zufrieden. Das lasse sich schon allein am üppigen Trinkgeld, an mitgebrachten Brezeln und Kuchen für die Mitarbeiterinnen ablesen, sagt D.

Das Fass zum Überlaufen brachte aber ein Vorfall im vergangenen Jahr. Der ging zwar glücklicherweise glimpflich aus, hinterließ aber deutliche Spuren im Team.

Zum Konflikt war es mit einem Patienten gekommen, der 90 Minuten zu spät zu seinem Termin erschien – ohne jegliche Vorankündigung. Für ihn waren umfangreiche Untersuchungen eingeplant, die zu diesem Zeitpunkt an diesem Tag nicht mehr vorgenommen werden konnten. MFA Sandy S. wollte mit dem Patienten einen neuen Termin ausmachen, woraufhin die Situation eskalierte.

„Er hat eine seltsame Stimmung verbreitet, zwischen ungewöhnlich ruhig und außerordentlich aggressiv. Die Situation war unberechenbar. Er fing an, von einem Tumor im Kopf zu erzählen und dass er nun gefälligst mit der Ärztin sprechen wolle. Griff über den Tresen, hämmerte auf die von ihm mitgebrachte CD ein“, berichtet S.

Um die Situation zu deeskalieren, besprach Manuela D. mit dem Patienten die Bilder auf der mitgebrachten CD, immer im Hinterkopf, dass der Patient jederzeit ausrasten und sie oder ihre Mitarbeiterinnen körperlich attackieren könnte. „Er war groß und in einer solchen Situation erscheint einem so jemand riesig“, erinnert sich Manuela D.

Nach einem besonders unangenehmen Erlebnis hat sie die Reißleine gezogen

Mit dem Patienten wurde dann zunächst ein Folgetermin vereinbart, dieser aber mit Hinweis auf die Vorkommnisse per Mail später wieder abgesagt und dem Patienten nahegelegt, sich bitte eine andere Praxis zu suchen.

Trotzdem erschien er zu dem ursprünglich vereinbarten Termin in der Praxis, behauptete, er habe die Mail mit der Absage nicht bekommen, und er wolle jetzt mit der Frau Doktor sprechen. Bei ihr habe er sich dann kleinlaut entschuldigt. Gegenüber den MFA, die schon geahnt hatten, dass er trotz Absage einfach wieder auftauchen würde, verlor er kein einziges Wort.

Nach dem ersten Vorfall musste die komplette Nachmittagssprechstunde abgesagt werden, weil alle fix und fertig waren. Manuela D., wohl keine Person, die so schnell zu erschüttern ist, stand zitternd in ihrer Praxis. Ihr war klar, wie schnell die Situation für sie und ihre Mitarbeiterinnen auch hätte anders ausgehen können.

Als sie den Vorfall einem Polizisten schilderte, der Patient in ihrer Praxis war, antwortete dieser: „Ich glaube, Sie brauchen Hilfe.“ Das war für sie die Initialzündung, selbst aktiv zu werden, um sich und die Mitarbeiterinnen zu schützen.

Keine Blumenvasen am Empfang

Der Polizist vermittelte den Kontakt zum Polizeipräsidium. Von dort suchte ein Polizeihauptkommissar die Praxis auf, um gemeinsam mit dem Team Präventionsmaßnahmen zu besprechen. Dazu zählen ganz einfach zu handhabende Dinge wie: keine scharfen Gegenstände leicht zugänglich zu deponieren.

Also werden Scheren und Brieföffner am Empfang unverzüglich wieder zurück in die Schublade gelegt. Spitze Gegenstände in den Behandlungsräumen so deponiert, dass Patienten nicht leicht darauf zugreifen können.

Im Regelfall gibt es jetzt auch keine Blumenvasen mehr am Empfang oder eine Trinkgeldkasse auf dem Tresen. Denn der Rat des erfahrenen Polizisten lautete: Alles, was als Wurfgeschoss dienen kann, muss weg.

Praktische Tipps von der Polizei

Der Polizist empfahl auch die Einrichtung von Rescueräumen. Zwei Praxiszimmer, die von unterschiedlichen Orten – Empfang und Behandlungsräume gut zu erreichen sind – wurden als solche ausgemacht.

Wichtig: Sie sind von innen verschließbar und in beiden gibt es ein Festnetztelefon. „Wir haben zwar alle ein Handy, aber wenn sie im Notfall die Flucht ergreifen, denken sie nicht zwangsläufig daran, noch schnell nach ihrem Handy zu suchen“, sagt Manuela D.

Der Polizeihauptkommissar empfahl auch, ein Codewort zu vereinbaren, so dass jeder im Ernstfall gleich Bescheid weiß: „Das kann so etwas sein wie: Bring mal den roten Ordner“, berichtet D. Der Polizeikommissar empfahl aber auch, es zunächst immer mit einer empathischen Ansprache und Sätzen wie „Ich kann Sie verstehen…“ zu versuchen.

Vor der Praxis wurde zudem eine Kamera angebracht. „Wir dürfen nicht aufzeichnen“, sagt Manuela D., „aber das Mikro anmachen, so bekommt man schon mit, wenn sich etwas Unerquickliches anbahnen könnte“.

Die Ärztin wollte aber noch mehr für das Team tun. So buchte sie einen Selbstverteidigungskurs. An vier Terminen wurden sie und ihre Mitarbeiterinnen jeweils 90 Minuten lang geschult, wie man mit aggressiven Patienten fertig werden kann.

Das einheitliche Outfit mit dem Werbespruch einer bekannten Sportartikelfirma „Just do it“, spendierte die Praxischefin. „Es ging auch darum, aus der Passivität rauszukommen – anderen klarzumachen, hier gelten unsere Regeln“, sagt D.

Im Selbstverteidigungskurs gab es praktische, leicht zu merkende und nachvollziehbare Tipps, wie man sich gegen körperliche Aggression zur Wehr setzen kann, auch wenn man eher klein und zierlich wie MFA Sandy S. ist. „Zum Beispiel fest auf die Nase hauen, wenn man am Arm gepackt wird“, verrät S. einen der Tipps.

Selbstverteidigungskurs fürs Team gebucht

Aber die Frauen wurden auch ermutigt, mit lauter Stimme klare Anweisungen zu geben und sich so Respekt zu verschaffen. Da das nicht im Naturell aller Frauen liegt, hat die Nachhilfe durch den Selbstverteidigungskurs den vieren viel gebracht, berichten sie.

„Wir haben auch viel gelacht, denn wir durften mal richtig auf Männer eindreschen und sind im Laufe des Kurses immer mutiger geworden“, sagt D. und lacht. Bei aller Ernsthaftigkeit des Themas legt das Team Wert darauf, dass der Humor im Arbeitsalltag nicht zu kurz kommt. Eine positive Grundstimmung ist D. und ihren Mitarbeiterinnen wichtig.

Die soll sich auch den Patienten erschließen, und zwar von der ersten Kontaktaufnahme an. Klickt man die Praxis-Homepage an, erscheint zunächst ein kleines Video, in dem das Team freundlich lächelnd und auf originelle Weise um Respekt bittet. „Es geht generell um Respekt“, sagt D. Mitarbeiterinnen und Praxischefin werden auf der Homepage kurz mit Foto vorgestellt.

Kommt ein Patient telefonisch nicht durch, schaltet sich nach kurzer Zeit der Anrufbeantworter ein. Die Ansage informiert darüber, dass Patienten ihr Anliegen auch per Mail senden können. Die Mails werden zeitnah beantwortet. So muss im Regelfall kein Patient stundenlang in der Warteschleife hängen, wie es bei vielen Arztpraxen immer noch der Fall ist. Auch das sorgt für Stressabbau auf beiden Seiten.

Im Praxiseingang hat das Team kleine Schilder mit dem Hinweis „Ab hier bitte lächeln“ aufgehängt. Empfangen wird man mit einem großen Foto der freundlich lächelnden MFA. „Wir wollen von Beginn an, eine positive Stimmung erzeugen, die sich auf die Patienten übertragen soll“, sagt D. Und eine Botschaft an die Kolleginnen und Kollegen ist der Praxischefin besonders wichtig: „Niemand soll sich schämen, Hilfe zu holen. Wenn man das nicht macht, ist es falsch verstandener Stolz. “

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