Praxismanagement
Die Ermittlungsbehörden haben immer häufiger mit vermuteten Behandlungsfehlern zu tun. Ein Staatsanwalt erläutert, wie Ärztinnen und Ärzte Fehler vermeiden können – und sich Strafverfahren verhindern…
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Ärzte müssen selbst in sich ruhen, um gestressten Patienten helfen zu können – davon ist der Allgemeinmediziner Dr. Matthias Weniger überzeugt. Er verrät, wie seine Kolleginnen und Kollegen mit Belastungen umgehen können.
Herr Dr. Weniger, sind Sie gerade im Stress?
Sie meinen, weil ich gerade von Ihnen interviewt werde? Grundsätzlich empfinde ich mein Stresslevel als angenehm moderat. Ich lege aber auch viel Wert auf einen guten Ausgleich.
Seit zwölf Jahren leiten Sie das Institut für Stressmedizin. Jetzt mal provokativ gefragt: Braucht es so etwas überhaupt?
Mehr denn je! Denn heutzutage sind die Menschen in dieser extrem schnelllebigen, komplexen Welt an ganz vielen Stellen gefordert und vielfach auch überfordert. Deshalb ist ganz wichtig, dass wir uns mit uns selbst auseinandersetzen und lernen, den eigenen Stress zu bewältigen.
Kürzlich habe ich ein Interview mit einem Psychotherapie-Professor zur Corona-Krise gelesen. Es war sehr erschreckend noch einmal zu erfahren, wie stark die Zahlen von Angsterkrankungen und Depression nach oben gegangen sind. Es ist also notwendig, dass die Menschen ihre eigene Resilienz aufbauen.
Ärztinnen und Ärzte müssen dafür offen sein, denn sie sind ein großer Teil des ganzen Systems. Und wenn ich als Arzt nicht wirklich in mir ruhe, wie soll ich dann dem Patienten sagen, dass er seinen Stress bewältigen soll?
Und an dieser Stelle kommt dann ihr Institut ins Spiel. Verstehen Sie sich als reine Weiterbildungseinrichtung für Ärzte oder können sich auch gestresste Patienten an Sie wenden?
Im Grunde genommen gibt es in unserem Institut drei große Bereiche: Da ist zunächst die klassische Patientenversorgung, die läuft über eine kleine angeschlossene Privatpraxis, die Menschen mit Stress und stressbedingten Folgeerkrankungen aufsuchen.
Zweitens betreuen wir Unternehmen, die langfristig ihre Resilienz aufbauen wollen – von kleineren Unternehmen mit fünf bis zehn Leuten bis hin zu großen Firmen. Inzwischen kommen auch vermehrt Krankenhäuser.
Dr. Matthias Weniger
Und unabhängig von der klassischen Institutsarbeit läuft seit 15 Jahren eine sehr enge Zusammenarbeit mit der Ärztekammer Westfalen-Lippe, über die wir Seminare im Kontext von Achtsamkeit und Stressbewältigung anbieten, eben für die gestressten Kolleginnen und Kollegen. Über diesen individuellen Strang hat sich vor rund zwölf Jahren die Fortbildung Stressmedizin ausgebildet.
Worum geht es dabei?
Am Anfang steht die Frage, wie Ärztinnen und Ärzte mit ihrem eigenen Stress umgehen können. Es gilt das Motto: Fang bei dir selbst an und schaue auf deine eigenen Themen, denn gerade bei Ärzten ist das Stress-Level sehr hoch. Dann kann man viel besser auch auf die Patienten eingehen.
Die Fortbildung wirft ganz bewusst einen interdisziplinären Blick auf die Stress-Thematik. Normalerweise sieht die Orthopädin den Rückenschmerz, der Psychiater die Depression und der Hals-Nasen-Ohren-Arzt den Tinnitus.
Ich bin selbst Facharzt für Allgemeinmedizin und habe lange in der Klinik gearbeitet. Die Fortbildung habe ich gemeinsam mit einem früheren Chefarzt in der Psychiatrie und einem kardiologischen Chefarzt ins Leben gerufen. Wir beschäftigen uns damit, wie man Stress besser diagnostizieren kann und welche körperlichen und psychologischen Parameter es dafür gibt. Ganz zentral ist natürlich der Punkt, wie man selber mit seinem Stress umgeht.
Sind Ärzte überhaupt gestresster als andere Berufsgruppen?
Ich würde sagen, ja. Und der Level hat in den vergangenen fünf Jahren auch enorm zugenommen. Um zu erkennen, wie gestresst man ist, verwenden wir eine einfache mathematische Formel: Stress ist das Ergebnis aus meinen Stressoren – also den Themen, die mir tagtäglich begegnen – multipliziert mit meiner inneren Bewertung.
Wenn ich also zum Beispiel mit totalem Widerstand auf die Krankenhausreform reagiere, dann ist dies ein Multiplikat. Das Thema bekommt in diesem Fall eine Zehn, und wenn ich voll unter Dampf stehe, liegt die innere Bewertung bei 20. 10 x 20 ergibt also einen Stressfaktor von 200.
Ich kann aber auf dieselbe Situation relativ gelassen reagieren. Dann multiplizieren wir nicht mit 20, sondern nur mit drei. 10 x 3 wäre 30. An diesen Stellschrauben kann man relativ leicht arbeiten.
Was ist es denn, das ihre ärztlichen Kolleginnen und Kollegen so unter Stress setzt?
Die Stressoren haben sich in den vergangenen Jahren massiv verstärkt durch die Digitalisierung, mehr Bürokratie und den enormen wirtschaftlichen Druck. Mit der Fülle an Themen und des hohen Anspruchs, den wir als Ärzte nun mal haben, bleibt relativ wenig Zeit für unsere Ressourcen.
Wir geben unseren Patientinnen und Patienten gerne mit auf den Weg, dass sie auf sich achten sollen, aber das selbst anzuwenden, fällt uns schwer. Wir müssen konkret analysieren, welche Stressoren es in unserem Alltag gibt – kombiniert mit der Frage, ob es sich ändern lässt oder nicht. Die KV ist nun mal die KV und ich kann sie nur bedingt ändern. Also bringt es eigentlich auch nichts, sich darüber aufzuregen.
Also getreu dem Motto: „Love it, change it or leave it“ ?
Genau! In meine Seminare kommen häufig Ärztinnen und Ärzte, die alle so um die 50 Jahre alt sind. Sie wurden in der Facharztausbildung noch so sozialisiert, dass im Krankenhaus eine 80- oder 90-Stunden-Woche normal ist.
Auffällig ist, wie wenig sensibel sie für ihre eigenen Bedürfnisse sind. Viele haben verlernt, zu spüren, was sie eigentlich brauchen. Sie zahlen dann den Preis dafür, wenn sie sich über die KV aufregen.
Man muss eine Situation ja nicht unbedingt lieben, um gelassener zu werden. Deshalb würde ich statt „love it“ besser „take it“ empfehlen – mit einem sehr wichtigen Nachsatz: und schweige. Und höre auf, dich immer wieder aufzuregen.
Ihre Seminare richten sich aber nicht nur an Klinikärzte, sondern auch an die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen …
Die kommen sogar viel häufiger. Es ist spannend zu beobachten, dass bei Anti-Stress-Seminaren, die von Kliniken organisiert werden, die Resonanz extrem gering ist. Vielleicht ist es die Angst vor Gesichtsverlust.
Dabei haben die Kollegen dort besonders viel Stress durch Schichtdienste oder die hierarchischen Strukturen. Offen geredet wird nur dann, wenn die Ärzte in einem geschützten Rahmen kommen, beispielsweise bei Seminaren, die wir über die Ärztekammern organisieren. Niedergelassene Kollegen haben es da einfacher, sie reisen aus der gesamten Republik an, kommen zumeist alleine und vor allem: freiwillig.
“Die KV kann man nur bedingt ändern. Also bringt es auch nichts, sich aufzuregen.“
Dr. Matthias Weniger, Stressmediziner
Welche konkreten Tipps geben Sie ihren Kollegen denn, wenn diese sich gestresst fühlen?
Grundsätzlich ist akuter Stress erst einmal kein Problem, er treibt uns ja bekanntermaßen zu Höchstleistung. So ist es evolutionär betrachtet total sinnvoll, dass ich mich verausgabe, wenn ein Säbelzahntiger hinter mir herrennt. Problematisch wird es dann, wenn Stress chronisch wird. Je tiefer man in diesen Zustand hineingerät, desto weniger gut nimmt man sich selber wahr.
Hier hilft es, über sich und seine eigenen Bedürfnisse nachzudenken. Brauche ich vielleicht jetzt gerade eine Tasse Kaffee, um mich gut zu fühlen? Es ist eine Kunst, zu erkennen, dass ich überhaupt im Stress bin. Daran scheitert es häufig. Dann merkt man erst nach Tagen, wie durch man eigentlich ist.
Bei mir zieht sich in stressigen Situationen der Magen zusammen, bei anderen sind es die Schultern oder sie bekommen Herzrasen. Hilfreich können spezielle Atemtechniken sein, bei denen man bewusst ein- und ausatmet.
Kurzpausen sind ein ganz entscheidender Punkt: Dabei sollte man aber nicht das Handy hervorholen, sondern eben eine Atem- oder andere Achtsamkeitsübung machen.
Entscheidend ist aber, sich das überhaupt bewusst zu machen. Wenn alle an mir ziehen und zerren, brauche ich feste Rituale. Auf Visite kann ich zum Beispiel das Drücken des Desinfektionsspenders als bewusste 10-sekündige Auszeit betrachten.
Sind Hausärztinnen und Hausärzte die richtigen Ansprechpartner für gestresste Patienten? Oder empfehlen Sie eher den Gang zum Psychotherapeuten?
Auf jeden Fall der Hausarzt. Und das sage ich nicht nur, weil ich selber Allgemeinmediziner bin. Die Patienten wollen an diesem Punkt in erster Linie gesehen und gehört werden. Häufig sind Hausärzte diejenigen, bei denen sich die Betroffenen zum ersten Mal richtig öffnen. Ich verausgabe mich für die Firma und die Familie und keiner sieht es, heißt es dann.
Rein intellektuell betrachtet ist ihnen längst klar, dass sie sich abgrenzen müssen und lernen, nein zusagen. Die Kunst besteht aber darin, es wirklich für sich selber anzuwenden.
Ich persönlich halte es für wichtig, in diesen Gesprächen mit einer gewissen Form der Zuneigung für den Patienten da zu sein. Und wenn es dann noch gelingt und in den zeitlichen Kontext reinpasst, sollte man die einfachen Grundsätze der körperlichen Stressreaktion erläutern.
Cortisol als zentrales Stresshormon kann nun mal zu muskulärer Anspannung führen. Durch das Hormon sind die Menschen so darauf trainiert, Gefahren zu antizipieren, dass sie gar nicht zur Ruhe kommen.
Was raten Sie betroffenen Patienten?
Manchen hilft ein Stressbewältigungskurs, andere brauchen psychologische Hilfe oder auch nur eine zweiwöchige Auszeit. Um den Bogen zur eigenen Resilienz zu spannen: Wenn ich als Arzt aber selbst unter Dampf stehe, weil das Wartezimmer rappelvoll ist, überträgt sich das auf mein Gegenüber. Dadurch fühlt sich der Patient noch weniger gehört und gerät immer weiter in den Teufelskreis.
Handelt es sich bei Stressmedizin um eine offizielle Fachrichtung?
In Westfalen-Lippe sind wir gerade dabei, das Thema als strukturierte curriculare Fortbildung voranzubringen. Diese ist auch in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz anerkannt und entsprechend ankündigungsfähig. Das Interesse an der Fortbildung ist groß. Sie ist bewusst interdisziplinär aufgebaut, Psychotherapeuten und somatisch aufgestellte Kollegen profitieren voneinander.
Vielen Dank für das Gespräch!
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