Milchmädchenrechnung mit fatalen Folgen: Zahnärzte fordern Lauterbach auf, seinen PAR-Sparkurs zu revidieren

In einem Evaluationsbericht zeichnet die Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung gemeinsam mit der Deutschen Gesellschaft für Parodontologie Bundesgesundheitsminister Lauterbach anhand aktueller Abrechnungsdaten eindrücklich die Entwicklung vor, die die Mundgesundheit der Deutschen nehmen werde, wenn er weiter an der De-facto-Budgetierung der präventiven PAR-Behandlungsstrecke durch das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz festhalten sollte.

Angesichts der für dieses Jahr drohenden, vom GKV-Schätzerkreis auf 17 Milliarden Euro taxierten Finanzierungslücke bei der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zog Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach die Reißleine, um stark steigende Zusatzbeiträge für die Versicherten zu verhindern. Als Vehikel dazu diente ihm das im November 2022 in Kraft getretene GKV-Finanzstabilisierungsgesetz (GKV-FinStG), das auch von den Leistungserbringern einen Beitrag zur Ausgabenreduzierung fordert – und zwar von drei Milliarden Euro.


460 Millionen Euro sollten im Zeitraum 2023 und 2024 durch die, wie es das Bundesgesundheitsministerium nennt, „Begrenzung des Honorarzuwachses für Zahnärztinnen und Zahnärzte“ eingespart werden. Konkret geht es um die Begrenzung des Wachstums der Punktwerte und des Ausgabenvolumens – zum Stand 31. Dezember 2022 – für zahnärztliche Leistungen ohne Zahnersatz auf höchstens die um 0,75 Prozentpunkte verminderte Grundlohnrate in 2023 sowie auf höchstens die um 1,5 Prozentpunkte verminderte Grundlohnrate für 2024 (§ 85 Abs. 2d und 3a SGB V). Ausnahmen der Deckelung soll es nur geben für Leistungen im Rahmen der aufsuchenden Versorgung oder von Kooperationsverträgen zwischen stationären Pflegeeinrichtungen und Zahnärzten sowie bei Parodontitisbehandlung bei Versicherten mit Behinderung oder Pflegebedarf.

Sparkurs mit Folgekosten an anderer Stelle

Aus Sicht der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (KZBV) und der Deutschen Gesellschaft für Parodontologie (DG PARO) hat Lauterbach der Mundgesundheit der Menschen in Deutschland, genauer gesagt, der Parondotitisversorgung mit der De-facto-Budgetierung der präventiven PAR-Behandlungsstrecke durch das GKV-FinStG – gelinde gesagt – einen Bärendienst erwiesen.


In einem gemeinsamen, auf aktuellen Abrechnungsdaten basierenden Evaluationsbericht zeigen KZBV und DG PARO Lauterbach auf, dass im ersten Halbjahr 2023 bereits die Neubehandlungsfälle für die dreijährige neue, präventionsorientierte Parodontitis-Behandlungsstrecke bundesweit signifikant zurückgegangen seien – bei einer weiterhin unverändert hohen Krankheitslast. Gravierende negative Auswirkungen auf die Mund- und Allgemeingesundheit der Bevölkerung seien die Folge, warnen sie. Der Bericht belegt laut KZBV und DG PARO erstmals anhand konkreter Daten die verheerenden Auswirkungen des im vergangenen Jahr in Kraft getretenen GKV-FinStG auf die Parodontitisversorgung in Deutschland.

PAR-Behandlung: In der Startphase in die Parade gefahren

Rückblick: Für die verfasste Zahnärzteschaft sowie die in der ambulanten Versorgung tätigen Kolleginnen und Kollegen glich es fast einer Revolution, als der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) einstimmig seine neue PAR-Richtlinie beschlossen hatte, die zum 1. Juli 2021 in Kraft getreten ist.
Die neue PAR-Richtlinie sollte, so die Intention des G-BA und der KZBV – einer der stimmberechtigten Trägerorganisationen des obersten Beschlussgremiums der gemeinsamen Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen –, die systematische Behandlung der Parodontitis auf dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse gewährleisten. Konsens im G–BA-Beratungsverfahren war unter anderem auch, dass die neue Richtlinie und die damit einhergehende Einführung der bis zu drei Jahre andauernden Behandlungsstrecke ein wichtiges Instrument zur Verringerung der hohen Prävalenz der Parodontitis darstellten, aber gleichzeitig auch zusätzliche Kosten hiermit verbunden sein würden. Das Pikante: Mit Schreiben vom 26. April 2022 – also unter der Ägide Lauterbach – teilte das BMG dem G-BA mit, dessen Beschluss zur Änderung der PAR-Richtlinie nicht zu beanstanden. Konkret ging es um die Anpassung der Rundung der Sondierungstiefen.


Eine Beanstandung der PAR-Richtlinie – und damit deren Verhinderung – durch das BMG war auch nicht zu erwarten gewesen. Denn bis dato war bereits allgemein anerkannt, dass die Behandlung der Parodontitis (PAR-Behandlung) in der GKV über Jahrzehnte nicht mehr dem aktuellen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse entsprochen hatte und es in den alten Richtlinien erhebliche Zugangsvoraussetzungen zur PAR-Behandlung für die Patientinnen und Patienten gab. Regelmäßige Voraussetzung für die durchzuführende Parodontitistherapie war das Fehlen von Zahnstein und sonstiger Reizfaktoren, die Anleitung des Patienten zur richtigen Mundhygiene und die Überprüfung der Mitarbeit des Patienten vor und während der Behandlung. „Die Anzahl der Behandlungen stand deshalb in einem deutlichen Missverhältnis zur Zahl der Krankheitsfälle. Aus diesem Grund hat der G-BA einstimmig die neue PAR-Richtlinie beschlossen“, erinnern KZBV und DG PARO in ihrem Evaluationsbericht.

Rechte Tasche, linke Tasche

Die eingangs erwähnten, per GKV-FinStG intendierten Einsparungen im Kontext der kassenzahnärztlichen Versorgung in Höhe von 460 Millionen Euro könnten schnell wieder kassiert werden, so die im Bericht zu lesende Prognose. Dafür haben sich die Autoren die Leistungsbedarfe und Kostenverläufe der Versicherten angeschaut. Konkret geht es um die Leistungsbedarfe und Kostenverläufe der Versicherten mit PAR-Behandlung im Vergleich zu denen ohne. Durch „die positiven Effekte einer verstärkten PAR-Behandlung würden sich im vertragszahnärztlichen Bereich jährliche Einsparpotenziale im Bereich KCH von rund 151 Millionen Euro und im Bereich Zahnersatz von rund 52 Millionen Euro, also insgesamt rund 203 Millionen Euro, ergeben“, lautet die Prognose. „Darüber hinaus ist von deutlich positiven Auswirkungen der PAR-Behandlung auf den medizinischen Allgemeinzustand der Versicherten und von dadurch induzierten Einsparungen im ärztlichen Sektor auszugehen“, heißt es ergänzend.


Die Gesamtheit der indirekten Krankheitskosten – beispielsweise Produktivitätsverlust durch Abwesenheit vom Arbeitsplatz, Zahnlosigkeit, unbehandelte Karies bei Patienten mit Parodontitis, hauptsächlich Wurzelkaries – wird in einer Studie für Deutschland mit rund 34,79 Milliarden Euro angegeben (Botelho et al., 2022), wie im Bericht weiter zu lesen ist. Die konsequente Parodontitistherapie würde diese Kosten zumindest reduzieren und neben den individuellen und strukturellen gesundheitlichen Vorteilen zu einer gesamtwirtschaftlichen Entlastung führen. „Das Zurückfahren der Behandlungsfallzahlen als Folge des GKV-FinStG zementiert diese Parodontitiserkrankungskosten. Die Kosten für die Aussetzung der strikten Budgetierung machen dagegen nur einen Bruchteil dieser Krankheitskosten aus“, schreiben die Autoren.

Punktmenge spiegelt intendierte Präventionswirkung wider

Dass der G-BA mit seiner PAR-Richtlinie inklusive der intendierten Präventionswirkung tatsächlich den Nerv der Zeit getroffen hat, spiegelt sich nicht zuletzt in der abgerechneten Punktmenge im Bereich Parodontalbehandlung wider, so die Abrechnungsanalyse von KZBV und DG PARO. Habe sie sich in den Jahren 2015 bis 2021 relativ konstant in einem Korridor zwischen 450 und 500 Millionen Punkte bewegt, so erhöhte sie sich mit Einführung der neuen, präventionsorientierten PAR-Behandlungsstrecke – resultierend aus dem Zusammenwirken von ausgeweitetem Leistungsumfang und der gestiegenen Zahl der Neubehandlungen – auf rund 1,03 Milliarden Punkte. Entsprechend weise der Leistungsbereich der Parodontalbehandlung im Verlauf der Jahre 2015 bis 2021 – also in der alten PAR-Behandlungsstrecke – einen relativ konstanten Anteil an der abgerechneten Gesamtpunktmenge zwischen 4,6 Prozent und 4,9 Prozent auf und erhöhte sich mit Einführung der neuen PAR-Behandlungsstrecke auf 10,0 Prozent im Jahr 2022, entsprechend den Versorgungszielen der neuen, vom G-BA verabschiedeten PAR-Richtlinie.

Honorar soll zuerst Weiterbehandlungen decken

Ausführlich legen KZBV und DG PARO in ihrem Bericht die PAR-Neubehandlungen dar. Diese lagen demnach in den Monaten 02/2023 und 03/2023 mit rund 120.000 Neubehandlungen in etwa wieder auf dem durchschnittlichen Niveau der Monate des Jahres 2022, sodass die Auswirkungen erst zeitverzögert eingetreten seien. „Hierbei ist zu beachten, dass die Planung der neuen PAR-Behandlungen den Abrechnungszeitpunkten der BEMA-Position 4 zeitlich mindestens 6 bis 8 Wochen vorgelagert ist, sodass die fallende Entwicklung der Neubehandlungen zeitlich parallel bereits mit der Einführung des GKV-FinStG zu Beginn des Jahres 2023 eingesetzt hat.

Für das 2. Quartal 2023 deuten die vorliegenden Daten mit einer Zahl von rund 113.300 (04/2023), 106.200 (05/2023) bzw. 101.100 (06/2023) PAR-Neubehandlungen auf eine stark rückläufige Tendenz hin. Im Monat 07/2023 liegt die Zahl der PAR-Neubehand lungen nur noch bei rund 92.400 Neubehandlungsfällen, was bereits einen Rückfall auf das niedrige Niveau der alten PAR-Behandlungsstrecke (z. B. Vergleichsjahr 2019 mit einem Monatsdurchschnitt von rund 92.000 Neubehandlungen) bedeutet. Der Trendverlauf selbst deutet auf noch weiter zurückgehende Neubehandlungsfälle hin“ heißt es zur Auswertung der Abrechnungsdaten.


Bei linearer Fortschreibung des rückläufigen Trends der monatlichen Neubehandlungen in den restlichen Monaten des Jahres 2023, so lautet die Prognose, würden im Dezember 2023 die Neubehandlungen bei rund 60.000 Fällen pro Monat liegen, was einer Halbierung der im Jahr 2022 erreichten Niveaulage entsprechen würde. Im Gesamtjahr 2023 würden dann aufgrund der Regelungen des GKV-FinStG nur noch rund 1,100 Millionen PAR-Behandlungen (gegenüber 1,445 Millionen in 2022) begonnen werden, was einem Rückfall der Zahl der Neubehandlungen unterhalb des Niveaus der alten PAR-Behandlungsstrecke entsprechen würde.

„Dies wäre gleichbedeutend mit dem Scheitern des neuen, präventionsorientierten Versorgungskonzeptes und einer deutlichen Verschlechterung unterhalb des Niveaus der alten Versorgungsstrecke“, so das Zwischenfazit der Autoren. Und sie ergänzen: „Angesichts der mengenbegrenzenden Regelungen des GKV-FinStG ist diese Entwicklung nicht überraschend, da die für die Parodontitisbehandlung verfügbaren Mittel prioritär für die Weiterbehandlung der im Vorjahr 2022 begonnenen Neubehandlungsfälle aufgewandt werden dürften, sodass auch im Jahr 2024 – ohne Änderung der gesetzlichen Rahmenbedingungen – die Neubehandlungen aufgrund der fehlenden Planungssicherheit weiter sinken werden und somit die PAR-Versorgung der Patienten langfristig geschädigt wird – mit entsprechend negativen Auswirkungen auf die Mundgesundheit und auch die Allgemeingesundheit der Bevölkerung.“

Für die zusätzlichen Kosten der Folgeleistungen seien insbesondere drei Positionen relevant – die Grading-Einstufung der PAR-Behandlungsfälle im Hinblick auf die Zahl der UPT-Frequenzen pro Jahr, die Compliance bzw. Adhärenz der Versicherten bei der Inanspruchnahme von UPT-Leistungen sowie der Anteil der UPT-Verlängerungsfälle mit zusätzlichen UPT-Leistungen.

Kassen kündigen bereits Verträge

Auch die Krankenkassenseite hat schon auf die neue Gesetzeslage reagiert. Zwar gilt auch für sie das Rechtsprinzip des pacta sunt servanda. Aber: Die Anpassungsmöglichkeiten, die § 85 Abs. 3 SGB V den Gesamtvertragspartnern vorgibt, die es ermöglicht hätten, die neue PAR-Versorgung in den Verträgen abzubilden, stehen den Vertragspartnern durch die strikte Budgetierung nicht zur Verfügung. „So wurden auch Regelungen bzw. Protokollnotizen, die bereits vor Inkrafttreten des GKV-FinStG vereinbart waren und die die neuen, präventionsorientierten PAR-Leistungen extrabudgetär gestellt hatten, von den Krankenkassen unter Hinweis auf die neue Gesetzgebung flächendeckend infrage gestellt bzw. gekündigt. Nur vereinzelt in wenigen KZVen, vornehmlich der neuen Bundesländer, ist es gelungen, mit einzelnen Krankenkassen Lösungen zu finden, die usgewählte Leistungen der neuen Parodontitisstrecke in den Gesamtvergütungen für 2023 teilweise abbilden konnten“, spiegelt der Bericht die aktuelle Vertragssituation wider.


Dies betreffe allerdings überwiegend KZVen, die aufgrund zurückgehender Praxis- und Vertragszahnarztzahlen ohnehin voraussichtlich weniger Leistungsmenge abrechnen würden. Diese sehr vereinzelten „Insellösungen“ hätten bundesweit gesehen aber leider keinen Einfluss auf die Gesamtproblematik bei der PAR-Versorgung.

Planungssicherheit für Praxen nicht gegeben

Da auch jede Zahnarztpraxis ein Wirtschaftsunternehmen ist, ist für die jeweiligen Inhaber die Planung ein essenzieller Bestandteil des Wirtschaftens. In der Vergangenheit, referenziert der Bericht dazu, hätten die Praxen eine relativ hohe Planungssicherheit durch frühzeitig feststehende Verträge gehabt. Die Mitte des Jahres 2023 immer noch vorherrschende offene Vertragslage führe derweil aber zu einer großen Verunsicherung bei den Praxen, welche sichunter anderem im Bereich PAR durch die rasant abnehmende Anzahl von Neubehandlungen manifestiere.


„Daneben ist im Vergleich zu den Vorjahren mit einer Welle von Schiedsamtsanrufungen zu rechnen, da insbesondere unterschiedliche Ansichten der Vertragspartner hinsichtlich der Ausgangsbasis für die Festlegung der Höhe der Gesamtvergütungsobergrenzen bestehen. Die weitverbreitete Aufkündigung bzw. Nichtfortführung von in 2022 bestehenden Vertragsinhalten, die die Einführung der neuen, mehrjährigen PAR-Versorgungsstrecke unterstützen sollten, verschärft in hohem Maße die Problematik der PAR-Versorgung – sowohl für das Jahr 2023 als auch perspektivisch für 2024. Zusätzlich verschärft wird das Problem durch die Aufnahme weiterer neuer Leistungen in den Leistungskatalog, wie beispielsweise die Unterkieferprotrusionsschiene (UKPS) und digitale Leistungen“, monieren KZBV und DG PARO.

BMG in der Evaluationspflicht

KZBV-Chef Martin Hendges bechreibt die Dilemmasituation, in der die niedergelassenen Zahnärzte sich nun befinden, so: „Die Regelungen des GKV-FinStG führen jetzt dazu, dass die Mittel nicht ausreichen, um die neue Parodontitistherapie flächendeckend auf ein Niveau zu heben, das der hohen Krankheitslast angemessen ist. Denn zusätzlich zu der hohen Zahl an Neubehandlungsfällen müssen wir ausgehend von der neuen dreijährigen Behandlungsstrecke die Weiterbehandlung der in den Vorjahren begonnenen Fälle gewährleisten.

Bleiben die gesetzlichen Rahmenbedingungen unverändert, wird der rückläufige Trend bei den Neuversorgungsfällen zwangsläufig anhalten. Dies käme einem Scheitern der neuen, präventionsorientierten Parodontitisversorgung gleich und würde die Negativfolgen für die Patientenversorgung weiter verschlimmern. Hinzu kommen erhebliche finanzielle Belastungen für die Krankenkassen durch Folgekosten im zahnmedizinischen, aber auch im allgemein-medizinischen Bereich. Aus diesen Gründen besteht dringender politischer Handlungsbedarf. Es ist zwingend erforderlich, die Leistungen der Parodontitistherapie von der Budgetierung des GKV-FinStG noch in diesem Jahr auszunehmen!“


Wie sich das BMG unter Lauterbach zu dieser konkreten Forderung verhalten wird, ist noch unklar. Fakt ist, dass das Ministerium per Evaluationsklausel Parodontitisversorgung verpflichtet war, bis zum 30. September 2023 die Auswirkungen der GKV-FinStG-Regelungen auf den Umfang der Versorgung der Versicherten mit Leistungen zur Behandlung von Parodontitis zu evaluieren.

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